Jeder in der Schweiz gebo­re­ne, der wie ich schon 55 Jahre und mehr auf dem Pukel trägt, erin­nert sich an eine Zeit, als die Wirtschaft noch nach ande­ren Gesetzmässigkeiten funk­tio­nier­te. Der Briefträger hat­te Zeit für einen Schwatz, an jeder Ecke stand ein Kiosk, und wenn man Rechnungen bezah­len woll­te, ging man zum Bank- oder Postschalter. Dort war­te­te ein Angestellter, der einem half. Ein ein­zi­ges Einkommen reich­te aus, um eine Familie zu ernäh­ren und sich den Traum vom Eigenheim zu erfüllen.

Heute, im Jahr 2025, fra­ge ich mich oft: Was ist mit die­ser Welt gesche­hen? Wir arbei­ten heu­te nicht viel weni­ger Stunden als damals, trotz­dem scheint es für einen Arbeiter viel schwie­ri­ger gewor­den zu sein, sich ein Haus als Eigentum zu erwer­ben. Der tech­ni­sche Fortschritt war gigan­tisch – seit 1984 erober­ten Computer lang­sam die Firmen, spä­ter das Internet, dann Smartphones und heu­te spre­chen alle von künst­li­cher Intelligenz. Trotzdem oder gera­de des­we­gen stellt sich die Frage: Welche Bevölkerungsschicht hat in den letz­ten 40 Jahren von die­sem tech­ni­schen Fortschritt wirt­schaft­lich profitiert?

Die Schweiz meiner Jugend (1960er-1980er)

Als ein Lohn noch reichte

In den 1960er und 1970er Jahren war die Schweiz ein ande­res Land. Meine Kindheit war geprägt von einer Wirtschaft, in der ein Familienernährer aus­reich­te. Die Frauen waren deut­lich weni­ger in bezahl­ten Berufen tätig, was heu­te ger­ne als rück­stän­dig bezeich­net wird, aber einen ent­schei­den­den Effekt hat­te: Das ver­füg­ba­re Arbeitskräfteangebot war klei­ner, die Löhne ent­spre­chend höher.

Ein Durchschnittsverdiener konn­te damals tat­säch­lich davon träu­men, ein Haus zu kau­fen. Die Immobilienpreise stan­den in einem ver­nünf­ti­gen Verhältnis zu den Löhnen. In den frü­hen 1980er Jahren kos­te­te ein durch­schnitt­li­ches Einfamilienhaus in der Schweiz etwa das Vier- bis Fünffache eines Jahresgehalts eines Facharbeiters. Bei einem Jahreseinkommen von 40’000 Franken kos­te­te ein Haus rund 180’000 Franken. Mit Eigenkapital von 20 Prozent und einer Hypothek war ein Hauskauf für nor­ma­le Arbeitnehmerfamilien durch­aus machbar.

Die Welt der persönlichen Dienstleistungen

Der Briefträger kann­te jeden in der Nachbarschaft und hat­te Zeit für ein Gespräch. An jeder Strassenecke gab es einen Kiosk, oft geführt von einer Familie, die dort ihr Auskommen fand. Diese klei­nen Geschäfte waren mehr als nur Verkaufsstellen – sie waren sozia­le Treffpunkte der Quartiere.

Bei der Bank oder Post war­te­te ech­tes Personal. Wenn man Rechnungen bezah­len woll­te, ging man zum Schalter, füll­te einen Einzahlungsschein aus, und ein Angestellter erle­dig­te den Rest. An der Tankstelle bedien­te ein Angestellter die Pumpe, im Supermarkt scann­ten Kassiererinnen alle Waren. Diese Dienstleistungen waren selbst­ver­ständ­lich und kos­te­ten nichts extra.

Bescheidener Luxus und lokale Ferien

Luxus war damals noch beschei­den und über­schau­bar: ein teu­re­res Auto, ein grös­se­res Haus, viel­leicht eine klei­ne Segelyacht. Die Möglichkeiten, Geld aus­zu­ge­ben, waren begrenzt. Es gab schlicht nicht das brei­te Angebot an Luxusgütern, das heu­te existiert.

Die Ferien waren noch beschei­den und lokal geprägt. Das Auto brach­te die Familie ins Tessin, nach Österreich oder an die fran­zö­si­sche Mittelmeerküste. Eine zwei­wö­chi­ge Fahrt mit dem VW Käfer oder Opel Kadett nach Italien war der Höhepunkt des Jahres. Übernachtet wur­de im Zelt oder in ein­fa­chen Pensionen.

Die Freizeitgestaltung war weni­ger kom­mer­zia­li­siert: Sonntagsausflüge in die nahen Berge, Spaziergänge, Besuche bei Verwandten. Sport bedeu­te­te den ört­li­chen Fussballclub oder Turnverein, nicht das teu­re Fitness-Studio mit Personal Trainer.

Das Familienbudget der 1980er Jahre

1980 gaben Schweizer Haushalte noch einen gros­sen Anteil ihres Einkommens für Lebensmittel aus – etwa 15 bis 20 Prozent. Die Wohnkosten belie­fen sich auf rund 20 Prozent des Budgets. Gesundheitskosten waren mar­gi­nal, da die Krankenkassenprämien deut­lich tie­fer lagen und vie­le teu­re medi­zi­ni­sche Behandlungen noch nicht existierten.

Familien leb­ten auf etwa 34 Quadratmetern pro Person und in Haushalten mit durch­schnitt­lich 2.8 Personen. Die Fixkosten waren über­schau­bar, ein gros­ser Teil des Einkommens blieb für Sparen und gele­gent­li­che Anschaffungen übrig.

Die Schweiz von heute (2025)

Der Doppelverdiener-Zwang

Parallel zum Produktivitätswachstum eta­blier­te sich ein neu­es Familienmodell: der Doppelverdiener-Haushalt. Frauen dräng­ten mas­siv in den Arbeitsmarkt, was gesell­schaft­lich als Fortschritt gefei­ert wur­de. Aus öko­no­mi­scher Sicht hat­te die­se Entwicklung jedoch eine Kehrseite: Das Arbeitskräfteangebot ver­dop­pel­te sich prak­tisch, was den Lohndruck verstärkte.

Was als Emanzipation begann, wur­de zur Notwendigkeit. Heute müs­sen in den meis­ten Familien bei­de Partner arbei­ten, um den­sel­ben Lebensstandard zu errei­chen, den frü­her ein Einkommen ermög­lich­te. Der ver­meint­li­che Fortschritt ent­pupp­te sich als Hamsterrad: Mehr Arbeit für das glei­che Ergebnis.

Eigenheim als Luxusgut

Heute kos­tet das­sel­be Haus in ver­gleich­ba­rer Lage oft das Zehn- bis Fünfzehnfache eines Jahresgehalts. Bei einem durch­schnitt­li­chen Facharbeiterlohn von 70’000 Franken müss­te man für ein Haus mit 900’000 Franken rech­nen – und das wäre noch güns­tig. In belieb­ten Regionen sind Preise von über einer Million Franken die Regel.

Ein Facharbeiter kann heu­te mit sei­nem Jahreslohn nur noch etwa 7 Prozent eines durch­schnitt­li­chen Einfamilienhauses finan­zie­ren, wäh­rend es 1980 noch 25 Prozent waren. Wohneigentum ist für nor­ma­le Arbeitnehmerfamilien prak­tisch uner­reich­bar geworden.

Die Selbstbedienungs-Gesellschaft

Heute tippt der Kunde selbst sei­ne Daten ins Online-Banking. An der Tankstelle macht jeder Autofahrer die Bedienung selbst. Im Supermarkt gibt es Selbstbedienungskassen. Die Briefträger wir­ken gehetzt, het­zen von Haus zu Haus und haben kaum Zeit für mensch­li­che Kontakte.

Die Unternehmen ver­kau­fen die­se Entwicklung als Fortschritt: “Mehr Flexibilität für den Kunden”, “Rund um die Uhr ver­füg­bar”, “Keine Wartezeiten”. In Wirklichkeit han­delt es sich um eine gigan­ti­sche Kostenverlagerung. Die Arbeit wird nicht ein­ge­spart, son­dern gra­tis an die Kunden aus­ge­la­gert. Die ein­ge­spar­ten Lohnkosten flos­sen nicht in nied­ri­ge­re Preise, son­dern in höhe­re Gewinne.

Luxusindustrie für die einen, Kostenfalle für die anderen

Für Superreiche gibt es heu­te ein völ­lig neu­es Universum des Luxus. Megayachten kos­ten nicht mehr eine Million, son­dern 500 Millionen Franken. Privatjets wer­den zu flie­gen­den Palästen umge­baut. Häuser wer­den zu 100-Millionen-Anwesen mit 20 Schlafzimmern, Helikopter-Landeplätzen und unter­ir­di­schen Garagenstädten.

Diese Luxusindustrie schafft künst­lich immer neue Bedürfnisse für die Reichen. Plötzlich reicht die 50-Meter-Yacht nicht mehr, man braucht eine 100-Meter-Yacht. Jeff Bezos baut sich eine Yacht für 500 Millionen Dollar, also muss Elon Musk eine für 600 Millionen bau­en. Dieser Luxuswettbewerb erklärt, war­um die Gier nach immer höhe­ren Kapitalrenditen nie aufhört.

Die neuen Kostenfallen des Alltags

Heute ver­schlingt allein das Wohnen oft 30 bis 40 Prozent des Haushaltsbudgets. Die Krankenkassenprämien fres­sen wei­te­re 10 bis 15 Prozent. Hinzu kom­men neue Kostenkategorien, die 1980 noch nicht exis­tier­ten: Handy-Abos, Internet, Streaming-Dienste, Software-Lizenzen.

Besonders per­fi­de ist der Wandel vom Eigentum zum Abonnement. Früher kauf­te man eine Schreibmaschine und nutz­te sie jahr­zehn­te­lang. Heute mie­tet man Software monat­lich. Früher kauf­te man Schallplatten, heu­te abon­niert man Musik-Streaming. Diese Abo-Modelle gene­rie­ren kon­ti­nu­ier­li­che Einnahmen für die Unternehmen, belas­ten aber die Haushaltsbudgets permanent.

Ein wei­te­rer Kostentreiber ist die dra­ma­ti­sche Veränderung der Haushaltsstrukturen. 1980 leb­ten in der Schweiz durch­schnitt­lich 2.8 Personen pro Haushalt, heu­te sind es nur noch etwa 2.2 Personen. Gleichzeitig explo­dier­te die Zahl der Singlehaushalte. Alleine zu leben ist ein teu­rer Luxus, da die Fixkosten für Miete, Heizung und Strom von einer Person allein getra­gen wer­den müssen.

Parallel dazu stieg die durch­schnitt­li­che Wohnfläche pro Person mas­siv an. Lebte 1980 ein Schweizer auf etwa 34 Quadratmetern, sind es heu­te über 50 Quadratmeter. Mehr Platz bedeu­tet höhe­re Miet- oder Eigentumskosten, höhe­re Heizkosten und mehr Möbelbedarf.

Gesundheitskosten und das teure Geschenk der Langlebigkeit

Ein beson­ders dras­ti­sches Beispiel ist das Gesundheitswesen. Die Pro-Kopf-Ausgaben für Gesundheit stie­gen in der Schweiz seit 1980 infla­ti­ons­be­rei­nigt um über 300 Prozent. Die gestie­ge­ne Lebenserwartung wird oft als rei­ner Gewinn gefei­ert, doch sie hat auch mas­si­ve Kostenfolgen. 1980 betrug die Lebenserwartung in der Schweiz etwa 73 Jahre, heu­te liegt sie bei über 83 Jahren – zehn zusätz­li­che Lebensjahre.

Diese zehn Jahre sind jedoch nicht ein­fach zehn gesun­de Jahre mehr. Oft sind es Jahre mit chro­ni­schen Krankheiten, Pflegebedürftigkeit und inten­si­ver medi­zi­ni­scher Betreuung. Die teu­ers­ten Jahre im Leben eines Menschen sind typi­scher­wei­se die letz­ten bei­den – und davon gibt es heu­te deut­lich mehr.

Fernreisen als neue Normalität

Heute sind Flugreisen zur Normalität gewor­den. Wochenendtrips nach Barcelona, Skiferien in Kanada, Badeferien auf den Malediven – die geo­gra­fi­schen Horizonte haben sich dra­ma­tisch erwei­tert. Parallel dazu explo­dier­te das kom­mer­zi­el­le Freizeitangebot. Fitness-Studios, Wellness-Zentren, Adventure Parks, Konzerte, Festivals – für jede Minute der Freizeit gibt es heu­te kos­ten­pflich­ti­ge Angebote.

Die Ausgaben für Ferien und Freizeit stie­gen über­pro­por­tio­nal zum Einkommen. Während eine Familie 1980 viel­leicht 5 Prozent ihres Jahresbudgets für Ferien aus­gab, sind heu­te 10 bis 15 Prozent nor­mal. Diese Entwicklung offen­bart ein Paradox: Obwohl die Menschen kla­gen, weni­ger Geld zu haben, geben sie gleich­zei­tig mehr für Freizeit aus als je zuvor.

Warum sich alles verändert hat – Die Ursachen

Die Shareholder-Revolution der 1980er Jahre

Ein ent­schei­den­der Wendepunkt war die Durchsetzung des Shareholder-Value-Prinzips in den 1980er Jahren. Davor ori­en­tier­ten sich Unternehmen am Stakeholder-Modell: Sie berück­sich­tig­ten die Interessen aller Beteiligten – Aktionäre, Angestellte, Kunden und die Gesellschaft.

Mit dem Aufkommen neo­li­be­ra­ler Wirtschaftstheorien setz­te sich die Idee durch, Unternehmen hät­ten pri­mär den Aktionärswert zu maxi­mie­ren. Diese Philosophie, impor­tiert aus den USA, revo­lu­tio­nier­te die Schweizer Wirtschaft grund­le­gend. Plötzlich stan­den nicht mehr lang­fris­ti­ge Unternehmensziele im Vordergrund, son­dern kurz­fris­ti­ge Gewinnmaximierung.

Aktienrückkäufe statt Lohnerhöhungen

Die Folgen waren dra­ma­tisch. Statt Gewinne in höhe­re Löhne, bes­se­re Arbeitsbedingungen oder Forschung zu inves­tie­ren, schüt­te­ten Unternehmen immer grös­se­re Summen an ihre Aktionäre aus. Ein beson­ders per­fi­des Instrument wur­den Aktienrückkäufe: Unternehmen kauf­ten eige­ne Aktien zurück, um deren Kurs zu stüt­zen und die Rendite je Aktie künst­lich zu erhöhen.

Schweizer Grosskonzerne wie Nestlé, Novartis oder die UBS gaben in den letz­ten zwei Jahrzehnten Dutzende von Milliarden für Aktienrückkäufe aus – Geld, das theo­re­tisch für Lohnerhöhungen ver­füg­bar gewe­sen wäre. Allein Nestlé schüt­te­te seit 2000 über 100 Milliarden Franken an die Aktionäre aus, wäh­rend die Löhne der Angestellten real stagnierten.

Diese Entwicklung war kein Naturgesetz, son­dern das Resultat bewuss­ter Entscheidungen. Gewerkschaften wur­den geschwächt, Tarifverhandlungen unter­gra­ben, Arbeitsplätze ins Ausland ver­la­gert. Gleichzeitig explo­dier­ten die Managergehälter: Verdiente ein CEO 1980 etwa das 20-fache eines Durchschnittsarbeiters, sind es heu­te oft das 200-fache.

Die grosse Produktivitäts-Lohn-Schere

Betrachtet man die Entwicklung der letz­ten vier Jahrzehnte nüch­tern, wird ein fun­da­men­ta­ler Bruch sicht­bar. Die Arbeitszeit hat sich kaum ver­än­dert – ein Vollzeitbeschäftigter arbei­tet heu­te etwa gleich vie­le Stunden wie 1980. Die Produktivität ist jedoch explodiert.

Ein Arbeiter pro­du­ziert heu­te dank Computer, auto­ma­ti­sier­ten Maschinen und opti­mier­ten Prozessen ein Vielfaches des­sen, was sein Kollege 1980 schaff­te. Doch die­se enor­men Produktivitätssteigerungen spie­geln sich nicht in ent­spre­chend höhe­ren Löhnen wider.

In der Schweiz stieg die Produktivität je Beschäftigten zwi­schen 1980 und 2020 um rund 60 Prozent. Die Reallöhne leg­ten im glei­chen Zeitraum nur etwa 20 Prozent zu. Die Differenz – 40 Prozent – floss an ande­re Akteure: an Kapitaleigner, Aktionäre und Immobilienbesitzer. Diese Umverteilung war nicht zufäl­lig, son­dern sys­te­ma­tisch. Gleichzeitig stie­gen die Dividendenausschüttungen der SMI-Unternehmen von etwa 10 Milliarden Franken im Jahr 2000 auf über 40 Milliarden Franken 2023. Das ist eine Vervierfachung in nur zwei Jahrzehnten.

Warum Kapital gewinnt und Arbeit verliert

Die Gründe für die­se Entwicklung sind sys­te­misch und erklä­ren, war­um Kapitalbesitzer die abso­lu­ten Gewinner der letz­ten 40 Jahre wur­den. Kapital ist mobil, Arbeit ist lokal gebun­den. Kapital kann sich den bes­ten Standort aus­su­chen, Arbeiter sind an ihren Wohnort gefes­selt. Kapital kann sich gegen Inflation schüt­zen durch Sachwerte, Lohnarbeiter sind der Geldentwertung hilf­los ausgeliefert.

Vor allem aber: Kapital ver­mehrt sich expo­nen­ti­ell, Arbeitskraft nicht. Ein Franken, klug inves­tiert, wird zu zwei, vier, acht Franken. Ein Arbeiter kann nicht expo­nen­ti­ell pro­duk­ti­ver wer­den – die mensch­li­chen Grenzen sind erreicht.

Der Schweizer Aktienindex SMI stieg von 1000 Punkten im Jahr 1988 auf über 12’000 Punkte heu­te – eine Verzwölffachung. Wer 1980 100’000 Franken in Schweizer Aktien inves­tier­te, besitzt heu­te über 1.2 Millionen Franken. Kein Lohnarbeiter konn­te sein Einkommen in der­sel­ben Zeit verzwölffachen.

Die neue Klassengesellschaft: Kapital gegen Arbeit

Diese Entwicklung mar­kiert einen Bruch mit dem Nachkriegskapitalismus. Damals pro­fi­tier­ten Arbeiter und Kapitaleigner gemein­sam vom Wirtschaftswachstum. Heute flies­sen die Früchte des Fortschritts ein­sei­tig an die Kapitalbesitzer.

Die Zahlen sind ein­deu­tig: Während die Löhne real sta­gnier­ten, explo­dier­ten die Kapitalerträge. Der Anteil der Lohneinkommen am Volkseinkommen sank in der Schweiz von etwa 75 Prozent in den 1970er Jahren auf unter 65 Prozent heu­te. Diese zehn Prozentpunkte ent­spre­chen einer gigan­ti­schen Umverteilung von der Arbeit zum Kapital.

Der tech­ni­sche Fortschritt hat eine neue Form der Klassengesellschaft geschaf­fen – dies­mal nicht basie­rend auf Geburt oder Bildung, son­dern auf Kapitalbesitz. Oben ste­hen die Besitzer von Aktien, Immobilien und Unternehmen, die von auto­ma­ti­sier­ten Einnahmen leben. Unten fin­den sich die Lohnabhängigen, die trotz höchs­ter Produktivität aller Zeiten nicht vorankommen.

Diese neue Klassenteilung ist per­fi­der als die alte, weil sie sich als Leistungsgesellschaft tarnt. Während frü­her Adel und Bürgertum offen ihre Privilegien zur Schau stell­ten, behaup­ten heu­te die Kapitalbesitzer, ihre Gewinne sei­en das Resultat von Unternehmertum und Risikobereitschaft. In Wahrheit sind sie oft nur die Nutzniesser eines Systems, das Kapitalerträge sys­te­ma­tisch bevorzugt.

Die Bilanz von 40 Jahren Wandel

Was lässt sich nach die­ser Analyse fest­hal­ten? Der tech­ni­sche Fortschritt der letz­ten vier Jahrzehnte war zwei­fel­los beein­dru­ckend. Computer revo­lu­tio­nier­ten die Arbeitswelt, das Internet ver­netz­te die Welt, Smartphones mach­ten Informationen all­ge­gen­wär­tig verfügbar.

Fortschritt oder Umverteilung von unten nach oben?

Doch der Grossteil des­sen, was als Fortschritt ver­kauft wur­de, ent­pupp­te sich bei nähe­rer Betrachtung als cle­ve­re Umverteilung von der Arbeit zum Kapital. Die Produktivitätsgewinne der Digitalisierung flos­sen nicht in höhe­re Löhne oder nied­ri­ge­re Preise, son­dern in die Taschen der Kapitaleigner.

Die ent­schei­den­de Erkenntnis: Der tech­ni­sche Fortschritt der letz­ten 40 Jahre hat pri­mär den Kapitalbesitzern genützt, nicht den Arbeitnehmern. Während Maschinen und Computer die mensch­li­che Arbeit ersetz­ten, kas­sier­ten die Besitzer die­ser Maschinen die Gewinne. Die Arbeiter, die die­se Produktivitätssteigerung erst ermög­lich­ten, gin­gen leer aus.

Sind wir wirklich wohlhabender?

Die Statistiken zei­gen ein höhe­res Pro-Kopf-Einkommen und mehr Konsum. Doch die­se Zahlen täu­schen. Ein gros­ser Teil des gestie­ge­nen Wohlstands kon­zen­triert sich bei den obers­ten 10 Prozent der Bevölkerung – den­je­ni­gen, die Kapital besitzen.

Gemessen an der Fähigkeit, sich mit einem Einkommen ein Eigenheim zu leis­ten, eine Familie zu grün­den und für das Alter zu spa­ren, sind wei­te Teile der arbei­ten­den Bevölkerung heu­te schlech­ter gestellt als 1980. Sie sind pro­duk­ti­ver, aber nicht wohl­ha­ben­der geworden.

Offene Fragen für die Zukunft

Die Analyse der letz­ten 40 Jahre wirft unbe­que­me Fragen auf: Wenn schon die bis­he­ri­ge Digitalisierung die Ungleichheit ver­stärk­te, was wird dann die künst­li­che Intelligenz bewir­ken? Werden die Gewinne der KI-Revolution wie­der nur einer klei­nen Elite zugu­te­kom­men? Oder gelingt es dies­mal, die Früchte des Fortschritts brei­ter zu verteilen?

Als jemand, der bei­de Welten erlebt hat – die soli­da­ri­sche Nachkriegszeit und den neo­li­be­ra­len Kapitalismus – stel­le ich fest: Wir sind nicht zwangs­läu­fig bes­ser dran, nur weil wir tech­nisch fort­ge­schrit­te­ner sind. Der Briefträger, der noch Zeit für ein Gespräch hat­te, ver­kör­per­te viel­leicht mehr mensch­li­chen Fortschritt als jeder Algorithmus heute.

Fazit: Die Lektion für Anleger

Diese 40-Jahres-Analyse führt zu einer unbe­que­men, aber kris­tall­kla­ren Erkenntnis: Das System hat sich fun­da­men­tal gewan­delt. Kapital schlägt Arbeit – sys­te­ma­tisch, anhal­tend und mit wach­sen­dem Vorsprung. Wer heu­te nur auf sei­nen Lohn setzt, wird lang­fris­tig abgehängt.

Die Zahlen lügen nicht

Die Beweislage ist erdrü­ckend: Während Löhne real sta­gnier­ten, explo­dier­ten die Kapitalerträge. Der SMI ver­zwölf­fach­te sich seit 1988, Schweizer Immobilien ver­sie­ben­fach­ten ihren Wert, die Dividendenausschüttungen der SMI-Unternehmen ver­vier­fach­ten sich seit 2000. Gleichzeitig kann sich ein Facharbeiter heu­te nur noch 7 Prozent eines Eigenheims leis­ten statt 25 Prozent wie 1980.

Diese Entwicklung folgt wirt­schaft­li­chen Gesetzmässigkeiten: Kapital ist mobil, ska­lier­bar und ver­mehrt sich expo­nen­ti­ell. Arbeitskraft ist begrenzt, lokal gebun­den und unter­liegt mensch­li­chen Grenzen. Ein Franken, klug inves­tiert, wird zu zwei, vier, acht Franken. Ein Arbeiter kann nicht expo­nen­ti­ell pro­duk­ti­ver werden.

Die historische Chance unserer Zeit

Doch es gibt eine revo­lu­tio­nä­re Veränderung: Noch nie war es so ein­fach wie heu­te, selbst zum Kapitalbesitzer zu wer­den. Was vor 25 Jahren nur rei­chen Eliten mit pri­va­ten Bankberatern vor­be­hal­ten war, steht heu­te jedem mit einem Smartphone offen.

Online-Broker ermög­li­chen Aktienhandel für weni­ge Franken Gebühren. ETFs erlau­ben es, mit 100 Franken monat­lich gan­ze Märkte zu kau­fen und an der Wertschöpfung von über 1600 Unternehmen welt­weit teil­zu­ha­ben. Sparpläne auto­ma­ti­sie­ren den Vermögensaufbau. Robo-Advisor opti­mie­ren Portfolios. Was frü­her Millionäre brauch­ten – ein diver­si­fi­zier­tes, glo­ba­les Aktienportfolio – bekommt man heu­te per Mausklick.

Investieren als Notwehr gegen das System

In einer Welt, in der Kapital sys­te­ma­tisch bevor­zugt wird, ist Investieren nicht mehr Luxus oder Hobby, son­dern schlicht Notwehr. Wer sein Geld auf dem Sparkonto lässt, wäh­rend die Inflation die Kaufkraft frisst und gleich­zei­tig die Vermögenspreise explo­die­ren, macht sich sys­te­ma­tisch ärmer.

Die Generation der heu­te 30-Jährigen steht vor einer exis­ten­zi­el­len Entscheidung: Entweder sie lernt, wie Geld für sie arbei­tet, oder sie wird ein Leben lang für Geld arbei­ten müs­sen – mit sin­ken­den Aussichten auf Eigenheim, aus­rei­chen­de Rente oder finan­zi­el­le Unabhängigkeit.

Der Wettlauf gegen die Zeit

Die Analyse zeigt: Jedes Jahr, das ohne Kapitalbildung ver­streicht, ist ein ver­lo­re­nes Jahr. Die Kluft zwi­schen Kapitalbesitzern und Lohnabhängigen wird nicht klei­ner, son­dern grös­ser. Während der SMI in den nächs­ten 20 Jahren mög­li­cher­wei­se wie­der um das Vielfache steigt, wer­den die Löhne bes­ten­falls mit der Inflation Schritt halten.

Wer heu­te 25 Jahre alt ist und monat­lich 500 Franken in einen breit diver­si­fi­zier­ten ETF inves­tiert, kann bei his­to­ri­schen Renditen bis zur Pension über eine Million Franken Vermögen auf­bau­en. Wer die­se 500 Franken auf dem Sparkonto lie­gen lässt, hat nach 40 Jahren real weni­ger Geld als heute.

Die Demokratisierung des Kapitalismus

Das Paradoxe unse­rer Zeit: Während das System die Lohnarbeiter sys­te­ma­tisch benach­tei­ligt, bie­tet es gleich­zei­tig jedem die Möglichkeit, die Seiten zu wech­seln. Die Instrumente des Vermögensaufbaus waren noch nie so zugäng­lich, güns­tig und ein­fach zu nut­zen wie heute.

Die Schweizer Wirtschaftsgeschichte der letz­ten 40 Jahre lehrt uns: Das System hat sich gewan­delt, und nur wer die­se Veränderung ver­steht und nutzt, kann davon pro­fi­tie­ren. Die Entscheidung liegt bei jedem selbst: Weiterhin nur Zuschauer des Kapitalismus sein oder end­lich Mitspieler werden.

Die Geschichte zeigt ein­deu­tig, wel­che Seite gewinnt. Die Frage ist nur: Auf wel­cher Seite ste­hen Sie?